Japan, Jahrestag

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Zum Gedenken an das Tohoku-Erdbeben und die Folgen


Nachtrag 28.3.2012: Gestern erschien in der TAZ wieder so ein wunderbarer Gabriele-Goettle-Bericht, der in seiner uneitlen, ernsthaften, warmherzigen Erzählweise (Oral History) sehr gut die Umstände in Fukushima für uns nachvollziehbar macht: https://www.taz.de/Das-Krisenmanagement-der-Atomindustrie/!90340/

Angesichts der Tragödie in Japan wirken die nicht seltenen, besorgten Kundenfragen, ob der Tee wirklich noch aus 2010 oder bereits aus 2011 stammt, befremdlich und selbstfokussiert, auch jetzt besonders im Zeichen des Jahresgedenkens.

Ein Zeichen der Verbundenheit zu setzen könnte helfen, dieses Dilemma zwischen persönlichem Sicherheits-, aber eben auch Vorteilsdenken und den menschlichen Dramen vor Ort und der gesamtgesellschaftlichen japanischen Tragödie etwas aufzulösen.

Gerade weil offensichtlich die rücksichtslos-kapitalistische Prioritätensetzung der modernen Industriegesellschaften die Verseuchung erst derartig verheerend gemacht hat.

Wie das Zeichen aussehen kann, muss jede(r) selbst entscheiden, Trauerkultur muss nicht plakativ sein.

In Gedenken an das Tohoku-Erdbeben-, Tsunami und Atomunglück am 11.3.2011 in Japan möchten wir hier wie Gedankensplitter Eindrücke aus Japan darstellen, wie eine Collage mithilfe von Zitaten aus einem Beitrag der Japan Times und aus Essays von 2 japanischen Schriftstellerinnnen, einmal aus der TAZ, und einmal aus der ZEIT zitiert (danke dafür).

Wir haben keine Fotos eingestellt – die Texte rufen bereits starke Bilder hervor.

In den deutschen Medien heißt es: Jahrestag Fukushima, aber in Japans Gesellschaft ist es der Jahrestag des Tohoku-Erdbebens. Das Erdbeben und der folgende Tsunami haben mehr als 15.000 Menschen in den Tod gerissen.

Unser Partner in Tokio machte uns auf diesen Unterschied aufmerksam, und sandte uns einen Artikel aus der Japan Times, worin der Gedenktag beschrieben wird. Hier einige Auszüge, danach folgen Auszüge aus  den sehr lesenswerten Essays der Schriftstellerinnen Akira Kurida und Banana Yoshimoto:

 


Japan prepares to commemorate Tohoku tragedy

By PHILIP BRASOR
Special to The Japan Times

This Sunday is the first anniversary of the earthquake and tsunami that devastated the coastline of northeastern Japan and killed more than 15,000 people.

Die zentrale Gedenkveranstaltung findet in Tokio im National Theater statt, in Anwesenheit des Premierministers:

In any case, there are plans to set up a video link on March 11 in the National Theater with the official ceremonies to be held simultaneously in the three prefectures that were most affected by the disaster – Fukushima, Miyagi and Iwate.
The ceremony starts at 2:30 p.m., and though the general public is not invited, anyone can offer floral tributes at the National Theater from 4:30 p.m. Prime Minister Yoshihiko Noda has suggested everyone in Japan – “wherever they may be” – observe a minute of silence at 2:46 p.m., the time at which the earthquake struck on Friday, March 11, 2011. Conveniently, the anniversary happens to fall on a Sunday, so most people who wish to observe it in their own way will be able to do so without having to worry about interfering with work.
However, some people may prefer to observe it by not observing it. At this point, it’s understandable if they feel overloaded by the tragedy. It’s one thing to acknowledge the ongoing work of rebuilding lives in the Tohoku region and determining who was responsible for any lack of preparedness, but it’s quite another to have to relive those terrifying moments over and over again. (…)

Hier werden nun alle einzelnen TV-Programme zum Gedenktag beschrieben, und auch fast alle buddhistischen Tempel haben eine eigene Zeremonie, sowie die Lokal-Regierungen. In Kunst, Musik und Literatur wird die Tragödie und die Trauer ebenfalls dargestellt.

Der Artikel betont einerseits, dass wirklich niemand dem Gedenken entkommen kann, aber auch das uns beeindruckende Gemeinschaftsgefühl der Menschen in Japan wird immer wieder angesprochen – und die Notwendigkeit für die Japaner zu wissen, dass auch die anderen Länder mit ihnen trauern. Die Solidarität der Welt ist stärkend.

(…) The German writer Thomas Mann once pointed out that a person’s “dying is more the survivor’s affair than his own,” and there’s no dishonor in acknowledging that a huge component of grief is the mixture of guilt and relief one feels at outliving those you mourn. The official ceremony on Sunday is meant to have collective resonance, so when the prime minister mentions that people can observe the anniversary in their own way wherever they are, he means to say that they all participate. Though as a concept group mourning is hardly limited to Japan, in Japan it could be said to have the approbation of authority.

(…) Unlike annual observances of that other great tragedy in Japan’s recent history, World War II, the March 11 ceremonies recognize an act of God rather than a deed of men and therefore lie outside the scope of controversy. Despite that, the nuclear disaster, which many people believe was man-made, not to mention the country’s perceived lack of preparedness for this and future disasters, certainly isn’t going to be banished from consciousness while the mind tries to concentrate on remembrance. In that respect, the “Peace on Earth” event, which takes place in Hibiya Park on March 10 and 11 starting at 11 a.m., will attempt a more flexible approach to mourning, making the act of prayer something that connects repose for the victims to the well-being of the planet and its inhabitants. Associated with the Earth Day movement, the festival facilitates “citizen appeal” to make “the future a better place.

(…) If you want just music with your remembrance there’s American pop star Cyndi Lauper performing all weekend at Orchard Hall in Shibuya. She happened to be here when the earthquake hit a year ago, and stayed to carry out her tour – a gesture that did more for national morale than 100 “ganbaro!” (Do your best!) speeches by Japanese public figures. Her return for the anniversary reconfirms her solidarity with Japan and connects this special day to a larger world that feels the need to mourn as well.



Direkt nach dem Atomunglück in Fukushima erschien in der TAZ vor etwa einem Jahr ein berührender Brief der japanischen Autorin AKIRA KURODA, der universelle Aktualität hat. Hier der link zum Artikel auf der TAZ-Seite, im Folgenden einige Ausschnitte
(aus dem Englischen von Dominic Johnson):

https://www.taz.de/Brief-einer-japanischen-Autorin/!67610/

Akira Kurida: Brief einer japanischen Autorin: Ich entscheide mich zu leben

Es gibt im Leben entscheidende Momente. Man könnte auch sagen: Jeder Moment im Leben ergibt sich aus Entscheidungen. Gestern war ein seltsamer Tag, und ich musste mir über meine Entscheidungsprozesse klar werden; obwohl seit dem Erdbeben jeder Tag ziemlich merkwürdig ist, fühlt es sich fast so an, als habe unsere Wirklichkeit eine zusätzliche Ebene erhalten.

Letzte Nacht bin ich im Haus einer Freundin (Anm.: in Tokio) geblieben. (…) Auf dem Weg zu ihrem Haus entdeckte ich, dass ich die Dinge anders wahrnehme. Schauen Sie sich um: Sind Sie im Büro? In einem Café? Im Zug? Sind es Fremde? Wenn etwas passiert, sind das Ihre Mitspieler. Das ist Ihr Team. Völlig Fremde bekommen eine ganz neue Bedeutung.

Wie auch immer. Sie kennen die Nachrichten, es geht ja nicht mehr nur um das Erdbeben, sondern um Radioaktivität. Bisher kannte ich das Wort “Radioaktivität” nur als Song von Kraftwerk, aber nun bekommt es einen anderen Klang. Ich bekomme mit, wie alles stündlich ernster und heftiger wird. Trotzdem weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob ich die Situation “voll” verstehe.

Ich bekomme viele Anrufe und E-Mails von meinen Freunden. Sie sagen mir alle, ich soll mich sofort in Sicherheit bringen, viele meiner Freunde haben die Stadt verlassen (…) . (…) Worst-Case-Szenarien. Von all diesen Mails oder Tweets und dem Gespräch mit meinen Eltern wurde mir schwindlig, mir wurde schlecht, richtig körperlich schlecht. Ich dachte, ich müsste mich übergeben. Also betrachtete ich aufmerksam meinen Gemütszustand und merkte, dass ich sehr angespannt war. Völlig gestresst.

(…) Gleich nach dem Erdbeben entschied ich mich zu leben. Ich wählte das Leben. Sicher, ich liefere mich vollständig aus, aber das heißt nicht, dass es mir egal ist, ob ich lebe oder nicht. Es ist mir NICHT egal. Es war nicht “Ich will leben”, sondern: Ich ENTSCHEIDE mich zu leben. Auch wenn ich das nicht ganz allein entscheiden kann, sollte ich wenigstens eine Forderung an das Universum und das Schicksal stellen, oder? Mein ganzer Körper fordert Leben. Und ich fühle den Drang, mit Ihnen weiter darüber zu reden, was ich fühle und denke, denn ich will es teilen.

(…) Ich versuchte, nicht linear zu denken, mich von all den Informationen nicht ablenken zu lassen, sondern primitiver vorzugehen: meinen Instinkt zu nutzen. Und dann fand ich zum Glück meine eigene Antwort. Ich bleibe bis zum Wochenende in Tokio, dann fahre ich nach Nagano, wo meine Eltern sind.

Warum gehe ich nicht sofort? Ich werde es Ihnen sagen.

Dieses Wochenende ist Vollmond. Wegen Stromknappheit sind in Tokio jetzt die meisten bunten Neonlichter abgeschaltet. Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es in Tokio annähernd richtige Dunkelheit. Ein Freund, der auch in Tokio bleiben will, möchte mit mir in der Vollmondnachtausgehen. Wir werden unter dem Mondlicht spazieren gehen. Cool, nicht wahr?

Dieser Plan kann sich schnell wieder ändern, denn ich folge einfach meinem Instinkt. Ich erlaube mir, so flexibel zu sein wie möglich. Ich verspreche, nichts außer ehrlich zu sein. Vielleicht werde ich morgen in Nagano sein. Ich weiß es nicht.

Was auch immer geschieht: Ich werde Ihnen weiter schreiben. (…) Ich muss Ihnen nochmals danken, denn Ihnen zu schreiben hilft mir, in diesen außergewöhnlich gewöhnlichen Tagen mein Gleichgewicht und meinen Verstand zu bewahren. Danke!

Die TAZ stellt die Autorin vor: “AKIRA KURODA geboren 1977 im Großraum Tokio, ist eine japanische Schriftstellerin. Für ihren Roman “Made in Japan” erhielt sie 2000 den Bungei-Debüt-Preis. Sie lebt in Tokio.”

 


 

Für DIE ZEIT schreibt die auch hier bekannte japanische Schriftstellerin Banana Yoshimoto (geb. 1964) am 7.3.2012 einen Bericht. Sie beschreibt aus dem Abstand von einem Jahr die Tage des Erdbebens und Atomunglücks in Tokio. Der vollständige Beitrag ist hier zu lesen:
https://www.zeit.de/2012/10/DOS-Fukushima-Yoshimoto

Es folgen nun einige Auszüge:

Mein Leben nach Fukushima

Ein Jahr nach dem Erdbeben und der Atomkatastrophe in Japan beschreibt die Schriftstellerin Banana Yoshimoto, wie sie das Unglück erlebte und wie es ihren Alltag verändert hat.
DIE ZEIT stellt sie vor: “Die Schriftstellerin Banana Yoshimoto, 1964 geboren unter dem Namen Mahoko Yoshimoto, gehört zu den populärsten Autoren Japans. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Erzählung Kitchen von 1988. Soeben ist bei Diogenes ihr Roman Ihre Nacht erschienen, übersetzt von Thomas Eggenberg, der auch dieses Dossier ins Deutsche übertragen hat.”

Am 11. März 2011, dem Tag des Unglücks, wollte ich eigentlich nach Okinawa im Süden Japans fliegen. Ich hatte vor, das Konzert eines bekannten Ukulele-Spielers zu besuchen – eine dreitägige Reise zusammen mit meinem acht Jahre alten Sohn und einer meiner Freundinnen. Das Hotel war reserviert, meine Freunde in Okinawa erwarteten mich, alles war vorbereitet.
Ich wollte das Kind von der Schule abholen, nach Hause fahren, unsere fertig gepackten Sachen ins Auto laden und dann zum Flughafen aufbrechen. In einem Restaurant, das wir oft besuchen, aßen mein Mann und ich zu Mittag, tranken einen Tee und stiegen ins Auto.
Alles selbstverständliche, alltägliche Dinge.
Was für ein Glück dieses Selbstverständliche und Alltägliche im Leben ist, wie dankbar ich dafür bin, kann ich mit Worten nicht beschreiben.
Es mag eine banale Feststellung sein, aber Alltag ist etwas Wunderbares und ganz und gar Unersetzliches. Ein buntes, unübersichtliches, sinnloses Gewusel, das kein Ende nimmt. Wer weiß, ob es nicht der eigentliche Sinn unseres Daseins ist, diesen Reichtum schätzen zu lernen und auszukosten?

(…) Es geschah, als mein Mann und ich mit dem Auto unterwegs waren.
Das Auto fing auf einmal an zu rutschen. Was ist los, fragten wir uns, und da merkten wir: Es war ein Erdbeben. Im ersten Moment dachte ich: Gut, dass mein Mann bei mir ist. Aber das Kind! – Der Gedanke lähmte mich. Das Auto rutschte wie von Geisterhand bewegt seitlich weg, sogar das Steuerrad entglitt meinem Mann, der den Wagen irgendwie an den Straßenrand lenkte. Auch danach, auf dem Weg zur Schule unseres Kindes, mussten wir immer wieder anhalten.
Selbst aus großer Entfernung war zu sehen, wie die Antennen auf den Häusern schwankten. Da muss ziemlich was los sein, dachten mein Mann und ich.

(…) Ich dachte auch an Okinawa. Ob es mit der Reise noch klappen würde? Im Innersten ahnte ich, dass ich meine Pläne wohl begraben konnte. Nicht nur Okinawa – alles würde nicht mehr so sein wie vorher. Ein Ereignis von diesem Ausmaß in meiner Lebenszeit – unfassbar! Das Leben würde von jetzt an ein anderes sein, im Guten wie im Schlechten. Das empfand ich ganz stark und deutlich.

(…) In solchen Momenten möchte man dieses und jenes viel deutlicher wahrnehmen können, doch es funktioniert nicht. Wahrscheinlich eine Art Selbstschutz, um den Schmerz nicht zu spüren.
Endlich hatten wir es geschafft und waren bei der Schule angekommen. Ich kann meine Erleichterung gar nicht beschreiben, als ich unser Kind sah, wie es uns entgegenrannte.
Das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Lehrpersonal, das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Gott – es war so überwältigend, dass mir fast die Tränen kamen. Von mir aus konnte zu Hause alles in Scherben liegen. Was war das im Vergleich zum Glücksgefühl, dass wir alle beisammen und wohlauf waren?

(…) Doch die Bilder vom Tsunami und von den Atommeilern, die das Fernsehen an jenem Abend zeigte, wurden immer erschreckender. Es war ungeheuerlich. Allein der Gedanke, wie viele Menschen dem Tsunami zum Opfer gefallen sein mochten, ließ mich erstarren. Und mir war auch sofort bewusst, dass ein havariertes Atomkraftwerk je nach Windrichtung furchtbare Konsequenzen haben würde.
Ob es gut war, sich in den Fernsehnachrichten diese Bilder des Schreckens wieder und wieder anzusehen, weiß ich heute nicht.

(…) Menschen, die den Krieg erlebt haben, sind anders. Mein Schwiegervater war am Leben, es ging ihm gut. Ich war sprachlos und zugleich so erleichtert, dass mir die Tränen kamen. Wir wissen ja nie, wenn es plötzlich zu spät ist und wir jemanden nicht mehr sehen können. Wie sehr ich meinen Schwiegervater mochte, wie viel er mir bedeutete, wurde mir in diesem Moment einmal mehr bewusst.

(…) Doch die Ungewissheit der Situation und die fortwährende nervliche Anspannung waren nicht leicht zu ertragen. Eines Abends, als uns alles zu viel wurde, trommelten wir ein paar Leute aus der Nachbarschaft zusammen und brieten im Schein von Kerzenlicht Fleischhäppchen und aßen Brot dazu. Jemand erzählte, dass unser Freund, der Überlebenskünstler, aus irgendeinem Grund nur Butter horte, einen ganzen Berg davon! Worauf wir in schallendes Gelächter ausbrachen.
Darüber habe ich später einen Essay geschrieben und ihn anlässlich der Verleihung des italienischen Literaturpreises Capri Award im Juli 2011 vorgetragen. Es war ein seltsames Gefühl, an einem zauberhaften sonnigen Spätnachmittag auf der Insel Capri jenen kalten, düsteren Abend in Tokio wiederauferstehen zu lassen. Seltsam schön, so wie das Leben eben ist.

Seither habe ich immer wieder einen merkwürdigen Traum.
Da stehen mehrere schwarze Kästen nebeneinander, wobei vor allem der zweite Kasten in schwarzen Nebel gehüllt ist. Auf diese Szenerie schaue ich jedes Mal von weit oben herab.
Zuerst dachte ich: Ein Friedhof? Aber dann wurde mir klar: Es ist ein Atomkraftwerk. In meinem Traum sehe ich sozusagen, wie Fukushima mit dem Tod ringt. Ich kann nur hoffen, also hoffe ich, inständig.

(…) Wenn ich im Park spazieren gehe, sehe ich Mütter, wie sie mit geliehenen Geigerzählern die Radioaktivität in der Sandkiste und im Boden messen. “Hier ist es okay. Diese Gegend scheint ziemlich sicher zu sein, nicht wahr?” So reden die Mütter miteinander, als ginge es ums Wetter. Und ich denke: Das Leben nicht aufgeben, weiterkämpfen! Wie die Helden im Film.

Es gibt auch viele wunderbare Menschen. Menschen, die helfen, wo sie nur können; Menschen, denen man vertrauen kann; Menschen, die trotz des Verlusts ihrer Familie ihren Lebensmut nicht verloren haben.

(…)  Meinem Gefühl nach gibt es zwei deutlich unterscheidbare Verhaltensweisen in Tokio: Für die einen war die Katastrophe ein Anlass, das eigene Leben zu überdenken; sie sind netter, offener, zugänglicher geworden. Anderen sitzt der Schreck noch immer in den Knochen: Sie haben sich eingeigelt, wirken abweisend und wie erstarrt.

Ich aber will in dieser Stadt leben und schreiben. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass Tokio sich wieder normalisiert, dass Japan ein schönes, friedliches, Natur und Umwelt schützendes Land wird, dass die Menschen wieder lernen, etwas bescheidener zu leben. Und so wie man mir Mut macht, will auch ich den Mitmenschen Mut machen und meiner geliebten Heimat treu bleiben.

Auch wenn jeder anders damit umgeht, besteht kein Zweifel, dass die meisten Japaner sich wegen der radioaktiven Verseuchung Sorgen machen. Sie haben allen Grund dazu. Da die Zahlenwerte je nach Ort der Messung immer noch sehr hoch sind, ist es wichtig, zum Beispiel das Gemüse gut zu waschen, unbelastetes Wasser zu trinken und die veröffentlichten Messdaten im Auge zu behalten.
Ich trage immer ein Gerät bei mir, das meine Strahlenbelastung kumulativ über ein ganzes Jahr anzeigt. Und wenn ich im Internet sehe, dass die Strahlenbelastung besonders hoch ist, gehe ich nur mit Schutzmaske aus dem Haus.

(…) Unser neuer Hund wurde nach dem März 2011 geboren. Er kommt aus Saitama und hat sicher eine große Dosis Radioaktivität abgekriegt. Die Muttermilch, das Futter, der Boden – alles wird viel stärker radioaktiv belastet gewesen sein als vor der Katastrophe. So mische ich dem Hund Seetang, Pilze und Bierhefe ins Futter, weil das den Abbau schädlicher Stoffe fördern soll. Das ist die Aufgabe einer Mutter. Bei meinem Kind mache ich es genauso. Ich will, dass sie beide gesund aufwachsen und stark werden.
Nach der Katastrophe gab ich mir alle Mühe, nach vorne zu schauen, jeden Tag mit frischem Elan anzugehen. Es gelang mir nicht schlecht, doch gegen den kleinen Hund, gerade mal ein paar Monate auf der Welt, hatte ich keine Chance.

Endlich waren die Impfungen überstanden, und ich durfte mit ihm rausgehen. Es war Herbst, der Himmel hoch und blau, ein kühles Lüftchen wehte – das ideale Wetter für stundenlange Spaziergänge.
Der Hund sprang so ungestüm herum, dass er sich dauernd in seiner Leine verfing, und bellte lauthals. Ein flatternder Schmetterling, Blätter im Wind, Autos, andere Hunde, alte Männer, Kinderwagen – alles erregte seine Aufmerksamkeit, und wenn er zu mir aufblickte, funkelten seine Augen. Hey, ein Riesenspaß! Warum ist die Welt nur so aufregend und schön? Nie hätte ich geglaubt, dass es so was Tolles gibt. Was für ein Glück, geboren zu sein! Aus seinen Augen sprach unbändige, überschwängliche Lebensfreude. Und auf einmal spürte ich, dass ich großen Respekt für dieses kleine Lebewesen empfand.

Die Schönheit dieser Welt ist nicht dahingegangen. Sich vor den Gefahren schützen oder aber die Schönheit der Welt preisen – das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Liebe Welt, es tut mir leid. Sieh nur, ich freue mich auch, da zu sein, so viel Schönes erleben und den heutigen Tag genießen zu dürfen, wirklich!

 


 

Zusammengestellt von Ursula Stübner und Heinz-Dieter Gasper

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